Neue Lecks: Die vergessene Atomkatastrophe von Fukushima - Nachrichten Panorama - Weltgeschehen - WELT ONLINE
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In Fukushima brennen zerflossene Brennstäbe offenbar ein Loch in eine Schutzmauer. Die Regierung stellt den Krisenplan des Betreibers infrage.
Es hatte etwas Bizarres. Es war kurz nach dem Erdbeben und der Atomkatastrophe von Fukushima am 11. März. Der gewaltige Schrecken über das Ausmaß des Unglücks lag den Japanern noch im Nacken. In überfüllten Zügen flüchteten Menschen aus Tokio und anderen Regionen vor der erhöhten Strahlenbelastung in Zügen gen Süden.
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Da schickte der Betreiber des umstrittenen Atomkraftwerks Hamaoka an der Ostküste Japans Mitarbeiter auf die belebten Bahnhöfe der Region, um Poster aufzuhängen. Poster, die die Vorzüge der Kernkraft lobten. Das war vor zwei Monaten.
Nun wird Hamaoka abgeschaltet. Zeitweise. Der Betreiber Chubu Electric begann am Freitag, den Reaktor 4 des Atomkraftwerks Hamaoka herunterzufahren. Reaktor 5 – der zweite noch aktive der Anlage – soll diesen Samstag abgeschaltet werden. Die Begründung: Erdbebengefahr.
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Das Kraftwerk Hamaoka in der mitteljapanischen Region Shizuoka liegt über einer geologisch sehr kritischen Erdplatte. Nach Einschätzung der Regierung besteht eine fast 90-prozentige Chance, dass die Gegend innerhalb der nächsten 30 Jahre von einem Beben der Stärke 8,0 oder höher heimgesucht wird.
Das wäre vergleichbar mit der Katastrophe vom 11. März, als die Erdstöße eine Stärke von 9,0 erreichten.
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Die Lage ist nicht unter Kontrolle
Die Lage in Fukushima ist bis heute nicht unter Kontrolle. Die Reparaturtrupps in der Atomruine kämpfen verzweifelt gegen immer neue Rückschläge. Nach der Entdeckung unerwartet stark beschädigter Brennstäbe in Reaktor 1 infolge von Wasserlecks begannen die Arbeiter am Freitag, ein Ersatzkühlsystem aus Wärmeaustauschern aufzubauen. Es sei jedoch unklar, ob das weiter in die Reaktorhülle gepumpte Wasser so weit steigt, dass es bis an die Rohre für das Ersatzkühlsystem reicht, berichteten japanische Medien.
Die japanische Atomaufsichtsbehörde Nisa hatte am Vortag gemeldet, dass in Block 1 geschmolzene Brennstäbe vermutlich auf den Boden des Reaktordruckbehälters gefallen und in den Sicherheitsbehälter gelangt seien.
Der Behörde zufolge besteht aber keine Gefahr, dass Teile der Brennstäbe noch heiß sind oder durch den Betonboden des Reaktors schmelzen könnten.
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Wie der Betreiber Tokyo Electric Power (Tepco) meldete, haben extrem heiße Brennstäbe offenbar auch die Hülle von Reaktor 1 beschädigt. „Es muss ein großes Loch geben“, sagte ein Manager. Nach Reparaturarbeiten wurde demnach festgestellt, dass der Kühlwasserstand im Druckbehälter fünf Meter unter dem Normalwert liegt.
Das Leck sei schätzungsweise mehrere Zentimeter groß. Es sei wahrscheinlich, dass die Brennstäbe freigelegen hätten. Nach Darstellung von Tepco sind die Versuche, den Druckbehälter von außen zu kühlen, aber erfolgreich.
Der Umweltorganisation Greenpeace zufolge ist die Lage dagegen deutlich ernster als zuvor berichtet. Die Situation könne schnell eskalieren, sollte der Kernbrennstoff den Reaktorkessel durchschmelzen, warnen die Umweltschützer.
Aus einem Schacht nahe der Meerwasseraufnahme für den Reaktor 3 trat vorübergehend wieder hoch radioaktiv belastetes Wasser aus. Ein ähnliches Leck war im vergangenen Monat nahe Reaktor 2 entdeckt worden. Nach Angaben von Tepco ist das Leck aber inzwischen wieder gestopft.
Tepco ließ seine Arbeiter trotz der neuen Rückschläge mit den Vorbereitungen beginnen, das Gehäuse des Reaktors 1 mit einer Hülle zu überziehen. Die Arbeiten dazu sollen möglichst im Juni starten.
In Siedewasserreaktoren wie in Fukushima wird Wasser zur Kühlung und zur Abschirmung vor Strahlung verwendet. Nach dem Erdbeben vom 11. März fielen jedoch die Kühlsysteme aus, sodass sich Reaktoren und verbrauchte Brennstäbe erhitzten und Strahlung in die Umwelt freigesetzt wurde.
Mit der Entdeckung des neuen Lecks könnten sich die Arbeiten zur Stabilisierung der Lage in Fukushima verzögern. Durch austretendes radioaktives Wasser besteht Gefahr für den nahen Pazifik und das Grundwasser. Wegen der hohen Strahlung sei es für Arbeiter schwierig, die Anlage zu überprüfen, erklärte Tepco.
Fonds soll Tepco retten und Opfer entschädigen
Die Regierung in Tokio stellte daher die Planung des Betreibers zur Stabilisierung der Reaktoren in Fukushima infrage. Tepco hatte Mitte April angekündigt, die Lage in der Atomruine in sechs bis neun Monaten unter Kontrolle zu bringen. Angesichts der neuen Erkenntnisse forderte Industrieminister Banri Kaeda aber eine Überarbeitung des Krisenplans.
Die Regierung brachte unterdessen eine gigantische Finanzspritze für den Betreiber des havarierten Atomkraftwerks Fukushima auf den Weg. Geplant ist ein Spezialfonds, mit dem die Opfer der Atomkatastrophe entschädigt werden sollen und Tepco vor dem finanziellen Ruin bewahrt werden soll. Das Geld dafür soll über Sonderanleihen am Kapitalmarkt aufgenommen werden. Politiker hatten deren Volumen auf umgerechnet 43 Milliarden Euro beziffert. Die Regierung selbst machte keine Angaben zum Umfang des Fonds.
Im Gegenzug zur finanziellen Unterstützung wird die Regierung „für eine gewisse Zeit“ Kontrolle über das Tepco-Management und andere Stromversorger ausüben. Auch die Konkurrenzunternehmen sind aufgefordert, jährlich Beiträge in den Fonds einzuzahlen.
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Axel Springer AG 2011.
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